Hartmut Sommer

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Von Eintagsfliegen und Worthülsen - Eine kleine Schreibkunst

von Hartmut Sommer ©

 

Sprache ist immer in Gefahr, sich festzufahren in gängigen Floskeln und modischen Formeln. Das war früher nicht anders als heute. Die Marotten der steifen Kanzleisprachen und ihrer gestelzten Höflichkeitsfloskeln etwa waren nicht besser als heutige Sprachkapriolen. Nur eine Sprache, die aus ursprünglichem, ganzheitlichem Erleben gestaltet ist, kann über sich selbst hinausweisen und zeitlos Gültiges aufscheinen lassen. Auf einige der Regeln, die dabei zu beachten sind, insbesondere wenn man literarisch schreiben will, macht diese kleine Schreibkunst aufmerksam.

 

Von Eintagsfliegen

Sie mutieren schnell und verbreiten sich in rasender Geschwindigkeit über die Welt der Texte, die Eintagsfliegen der Sprache, entweder weil sie schick sind, da sie von der gerade vorherrschenden Denkrichtung verwendet werden, wie der Habermas’sche „Diskurs“, oder sie verbreiten sich wie eine Plage, weil das herrlich vertraute Wortgeklingel – tausend mal gehört auf Tagungen, Konferenzen oder in „Papers“ gelesen - das Gefühl gibt, dazu zu gehören. So schwirrt es dann überall von „Kontextualisieren“, „Topos“, "Narrativ" und „Paradigma“, alles wird plötzlich „verortet“, etwas wird „geschuldet“ und neuerdings macht man etwas „stark“, wenn man gute Argumente dafür hat. Irgendwann klingt die Plage wie nach einem Schweinezyklus ab, und andere Sprachmutanten verbreiten sich über das wissenschaftliche Getexte, manchmal wie dicke, fette Schmeißfliegen, die einem jeden Appetit nehmen, den Textbrei zu verkosten, in dem sie schwimmen – etwa diesen: „Die erziehungswissenschaftlich orientierte Intersektionalitätsforschung erweitert die Heterogenitätsdebatte. Sie lotet aus, welche Bedeutung das multifaktorielle und komplexe Verhältnis der Kategorien Gender, Ethnizität und elterlicher Bildungsstatus für die Qualität der Bildungsprozesse und damit zusammenhängend auch für den Bildungserfolg hat. Über den gleichzeitigen und nicht erst nachgeschalteten Einbezug mehrerer Differenzlinien soll aufgezeigt werden, wie Bildungsprozesse von BildungsteilnehmerInnen mit heterogener Gruppenzugehörigkeit spezifisch ablaufen.“ Über den Urheber sei hier nachsichtiges Schweigen gebreitet. Die Gedanken rasseln hier wie in Ketten gefangen, und die sperrige, sich gegen das freie Fließen des Gedankenstromes versetzende Aneinanderreihung der künstlichen Substantive kommt daher wie ein Aufzug hässlicher Monstren, dröhnend auf den tönernen Füßen des Wissenschaftsanspruchs. Natürlich können schwierige Zusammenhänge, etwa die Relativitätstheorie oder die aristotelische Metaphysik, auch durch eine klare Sprache nicht einfacher gemacht werden, und wissenschaftliche Fachbegriffe sind notwendig, aber ein Kokettieren mit künstlich verkomplizierten Formulierungen hilft der Suche nach Wahrheit nicht weiter. Im deutschen Wissenschaftsbetrieb – in den Geisteswissenschaften muss man genauer sagen – verneigt man sich leider immer noch ehrfürchtig vor dem schwer Zugänglichen, während der klar und verständlich geschriebene Text als leichtgewichtig gilt.


Standardmensch und Zeichensprache

Andere scheinen die Sprache gewissermaßen bleichen zu wollen, indem sie ihr alles Farbige des Lebens austreiben, sie verdünnen und präparieren zu einem formalisierten System, in dem die Wörter und Sätze wie auf Nadeln aufgespießte und unbeweglich aufgereihte Käfer sind, um sich möglichst der Zeichensprache der Mathematik anzunähern. So wird dann zuletzt aus der Liebe die „Individuenrelation Liebe“ wie in einer Einführung in die Ontologie: „Relationale Individueneigenschaften setzen ontologisch Relationen voraus; z.B. setzt die relationale Individueneigenschaft von Fritz geliebt zu werden, die Individuenrelation Liebe voraus“, heißt es dort. Die Namenswahl „Fritz“ ist sicher nicht zufällig, denn sie lässt uns an einen Standardmenschen denken, wie das Strichmännchen eines Cartoons – mathematisch gesprochen nur ein Parameter, der nichts mehr hat von einer lebendigen Person.


Inflationsgut und echtes Gold

Ich wünsche Ihnen, dass Sie nicht gezwungen sind, solche Texte zu produzieren, um sich ein Plätzchen im Wissenschaftsbetrieb oder auf der universitären Karriereleiter zu ergattern.  Vielleicht wissen Sie sogar um das beglückende Erleben des literarisch Schreibenden, wenn die Sprache langsam etwas herausformt und uns klarer erfassen lässt von der quellende Fülle des Seins. Dann leuchtet etwas auf von den geistigen Gestaltungen die es durchformen und auf eine höhere Wirklichkeit verweisen. Um sie zu erreichen, muss sich die Sprache geschmeidig anpassen und das Allgemeine und Einzelne zugleich in ihre Sprachbildungen einbeziehen. Die wissenschaftliche Abstraktion hat keinen Zugang zur lebendigen Vielfalt des Einzelnen (wiewohl sie natürlich ihren Sinn und Zweck hat), und ein Kunstverständnis, das nach Henri Bergson „immer auf das Individuelle abzielt“ (Bergson 1972, 110) schneidet sich den Zugang ab zum ideenhaften Urgrund, der sich im Einzelnen verwirklicht. Aber: „Wendet sich der schauend nachzeichnende, empfängliche Verstand im Lichte des allgemein begriffenen Wesens auf die konkrete Einzelung des wirklichen Dinges zurück, so erreicht er die ganzheitlich ideenhafte Schau der wirklichen Gestalt“ (Berning 469). Vor allem die einfachen und in der Regel alten, gewachsenen Wörter, in denen die Kraft des Lebens und der gelebten Erfahrung aufgespeichert ist, eignen sich dafür, die in dieser ganzheitlichen Schau gewonnenen Erkenntnisse mitzuteilen. Hermann Hesse hat auf diese Erfahrung seines Dichterlebens in einem Essay mit dem Titel „Das Wort ‚Brot’“ hingewiesen: "Was unseren Sprachen in den letzten zwei Jahrhunderten an neuen Vokabeln zugewachsen ist, ist an Zahl ungeheuer und staunenswert, aber an Gewicht und Ausdruckskraft, an sprachlicher Substanz, an Schönheit und echtem Gold ist es jämmerlich arm. Es ist zum größten Teil Inflationsgut." Die alten, gewachsenen Wörter haben die Kraft zu „beschwören“, während die konstruierten und für den flüchtigen Tagesbedarf gemachten nur „bezeichnen“. Als Beispiel für eines der kraftvollen, mit Leben und Seele erfüllten alten Wörter nennt er das Wort Brot: „Man braucht es nur auszusprechen und das in sich einzulassen, was es enthält, so sind schon alle unsere Lebenskräfte, die des Leibes wie die der Seele angerufen und in Tätigkeit versetzt. Magen, Gaumen, Nase, Zunge, Zähne, Hände sprechen mit.“


 Von Worthülsen

Sprache kann nicht im stillen Kämmerlein reifen, sich entfalten. Wünschen Sie sich nicht die einsame Dachstubenexistenz eines Spitzweg’schen Poeten. Sprache wächst im Kontakt mit der Welt und dem Leben, je reicher der Kontakt ist um so reicher wird die Sprache. Auch das Schreiben von Gebrauchstexten ist nützlich – ihre Brief im Büro, Bestellungen, Produktbeschreibungen, Verhandlungen mit Kunden, selbst Bedienungsanleitungen – alles ist bunte Sprachwelt, liefert Bilder und Vergleiche. Hören Sie ihren Handwerkern zu. „Aufmaß nehmen“ ist beispielsweise ein schöner alter Ausdruck aus der Handwerkersprache. Machen Sie sich die Wörter zu eigen und verbinden Sie ihre Bedeutung mit Ihrem Erleben. Leben Sie nicht aus zweiter Hand. Auch alte, kraftvolle Wörter wie „Bindung“, „Sinn“, „Begegnung und „Geborgenheit“ können zu leeren Worthülsen werden, wenn Sie nur angelesen sind und nachgeplappert werden in der Hoffnung, dass etwas von dem Glanz der Denkrichtung aus der sie genommen sind, auf die eigenen Texte abstrahlt – sie sind dann nichts als Mimikry, wie die Schwebfliege mit ihrem gelbgestreiften Leib nur vortäuscht, sie sei eine Wespe, um beim Fliegenbild zu bleiben. Wenn alte, kraftvolle Wörter losgerissen werden von ihrem gedanklichen Fundament, können tatsächlich auch Wörter wie „Begegnung“, über die Adorno seinen Spott ausgegossen hat, zu leeren und lächerlichen Worthülsen werden. Bis hierhin kann man Adorno recht geben, auch wenn er mit seiner Schrift „Jargon der Eigentlichkeit“ weder Heidegger noch Jaspers und erst recht nicht Martin Buber gerecht geworden ist. Gehen Sie also immer und am besten wiederholt mit der Fliegenklatsche durch Ihre Texte. Alles, was zu glatt und vertraut klingt ist verdächtig. Es könnte eine dieser hässlichen Eintags-, Schmeiß- oder Schwebfliegen sein, angelockt von der Bequemlichkeit des einfach aus der Konserve Greifbaren.


Statik und Bewegung

Gute Wörter allein machen noch keine guten Texte. Es ist wichtig, die Dinge nicht nur zu sagen, sondern auch zu zeigen, damit sie vor dem geistigen Auge des Lesers als lebendige Bilder entstehen. Schreiben Sie nicht, dass eine Gegend „dicht besiedelt“ ist, das ist die technische Sprache des Landschaftsplaners, hier wird nichts gefühlt und nichts gesehen. Beschreiben Sie, wie sich die Verkehrsadern verschlingen, wie sich die Ortschaften aneinander drängen und wie das verbliebene Grün der aufgeräumten Grünanlagen im Schatten der Mietskasernen verkümmert. Setzen Sie vor allem die Dinge in Bewegung. Alles Statische bleibt blass und unanschaulich. Es ist nichtssagend, wenn Sie schreiben, „Die Häuser stehen dicht an der Straße“, nein, „Sie drängen sich an die Straße“. Vergleichen Sie den Ausdruck „Die Dächer ragen weit über die Hauswände hinaus“ mit „Die Häuser ziehen ihre Dächer gegen das raue Klima tief herunter“. Sehen Sie zum Beispiel im folgenden Zitat aus den Essays von Albert Camus über seine algerische Heimat, wie er ein ganzes Gebirge in Bewegung setzt: „Kaum kann ich am Rande der Landschaft die schwarze Masse des Chenoua-Gebirges erkennen, das sich aus den dorfumschließenden Hügeln erhebt und in ruhig gewichtigem Rhythmus vorrückt, um sich im Meer niederzulassen“ (Camus 1994, 9). Mit allen Sinnen Anders als ein Film kann ein Text die Fülle der vieldimensionalen Erfahrung dem Nacherleben des Lesers zugänglich machen. Ein Felsen etwa kann grau und kahl aus der Erde hervorbrechen, aber er riecht auch moderig nach dem Laub, das sich in seinen schrundigen Spalten sammelt; kühl und feucht fühlt er sich an, hart und stumpf klingen die Tritte des Kletterers, der ihn hinaufsteigt. Erproben Sie am folgenden Zitat aus Ernst Jüngers Buch „Auf den Marmorklippen“, wie der Text Ihre Sinne anspricht: „Wenn dann das Rebholzfeuer im Kamine flammte, setzten wir nach altem Brauche, den wir uns in Britannien angeeignet hatten, die Duftamphoren auf. Wir pflegten dazu die Blütenblätter einzusammeln, wie sie die Jahreszeiten brachten, und pressten sie, nachdem wir sie getrocknet hatten, in weite bauchige Gefäße ein. Wenn wir zur Winterszeit die Deckel von den Krügen hoben, dann war der bunte Flor längst abgeblasst und in den Farben vergilbter Seide und fahlen Purpurstoffs dahingewelkt. Doch kräuselte aus diesem Blütengrummet gleich der Erinnerung an Resedenbeete und Rosengärten ein matter, wundersamer Duft empor“ (Jünger 1979, 69f). Und suchen Sie nicht nach besonders gedrechselten Formulierungen. Wie bei der bildenden Kunst entsteht der Gesamteindruck durch das Maßvolle der großen Linien, nicht durch hinzugefügten Schnörkel, der leicht überladen wirkt. Bei einem Text also muss vor allem der Sprachfluss stimmen, kraftvolle, bildhafte Wörter müssen sich einfügen in den harmonischen Rhythmus der Sätze und Absätze.


Schreiben und leben, leben und schreiben

Verkrampfen und verknäulen Sie sich nicht in liebgewonnenen Text. Wenn Sie das Gefühl haben, nicht weiter zu kommen, lassen sie ihn eine Weile liegen, bis sie Abstand davon gewonnen haben, und ihn wieder wie einen fremden Text ansehen, dann löst sich alles wie von selbst. Es ist nicht schlimm, wenn der Wecker klingelt, und Sie zur Arbeit müssen. Danach ist der Geist dann wieder frisch und offen für einen Neuansatz. Viele große Autoren haben neben ihren umfangreichen praktischen Aufgaben gewaltige Werke geschaffen. Augustinus war unendlich verstrickt in die kirchenpolitischen Auseinandersetzungen seiner Zeit und in Anspruch genommen durch seine Aufgaben als Bischof; Nikolaus von Kues war als Kirchenrechter ständig in kirchlicher Mission unterwegs; Johann Georg Hamann schrieb neben seinen Aufgaben als Lagerhausverwalter; Adalbert Stifter musste sich lange als Hauslehrer durchschlagen; Hans Carossa schrieb als praktizierender Arzt –­ um nur einige Beispiel zu nennen. Wir sind heute in einer ungleich besseren Lage als sie. Wunderbar etwa lässt sich unterwegs auf einer Dienstreise im ICE mit dem Notebook arbeiten. Lassen Sie dabei niemals nach, Sie müssen mit Ihrem Text leben, sich intensiv hineinleben, hineinmeditieren in das, über das Sie schreiben. Nur durch diese unerbittlich nachhaltige Anstrengung erreichen Sie das Innere Ihres Gegenstandes und können es angemessen darstellen. Bergson hat dies richtig erkannt, auch wenn seine Auffassung der künstlerischen Intuition einseitig ist: „Wer immer sich z.B. an literarischer Produktion versucht hat, weiß wohl, dass man, wenn der Gegenstand lange studiert worden ist, wenn alle Dokumente gesammelt, alle Aufzeichnungen gemacht sind, eines Mehr bedarf, einer oft sehr schmerzhaften Anstrengung, um sich plötzlich in das Herz des Gegenstandes zu versetzen und um so tief  wie möglich sich einen Antrieb zu holen, dem gegenüber man nachher nichts mehr zu tun hat, als sich gehen zu lassen“ (Bergson 1920, 56).


Honig für die ewigen Waben

Ein mit mir befreundeter Philosoph schieb letztens: „Bücherschreiben ist nicht das Wichtigste im Leben“. Das ist zweifellos richtig, aber es ist auch richtig, dass Schreiben eine Form der Lebenssteigerung und Lebensbewältigung sein kann. Mystiker wie Hildegard von Bingen und Mechthild von Magdeburg etwa hat der „Schreibauftrag“, den sie in ihren Visionen empfingen, zu einer inneren Befreiung geführt. Ist das Schreiben von innen her gelebt und wahrhaftig, kann es Wahrheit erfassen und mitteilen. Es kann auch Verhärtungen und Verengungen aufsprengen, in denen wir scheinbar aussichtslos gefangen sind. Camus etwa hat in der literarischen Verarbeitung der in seiner algerischen Heimat gewonnenen Eindrücke sichtlich Abstand gewinnen können von der Sinnlosigkeit und dem Absurden, das seine Texte sonst beherrscht: „Im schwärzesten Nihilismus unserer Zeit suche ich nur Gründe, ihn zu überwinden. Übrigens nicht aus Tugend, noch aus einer seltenen Seelengröße heraus, sondern aus instinktiver Treue zu jenem Licht, in dem ich geboren wurde und in welchem seit Jahrtausenden die Menschen gelernt haben das Leben zu bejahen bis in die Leiden hinein“ (Camus 93). Auch wer nur für sich schreibt, etwa wenn er Tagebuch führt, trägt Honig herbei „für die ewigen Waben“ (Jünger o.J., 120), denn in der Welt des Geistes geht nichts verloren.


Literatur:

 

Adorno, Th.: Jargon der Eigentlichkeit. In: Ges. Schriften. Bd. 6, Frankfurt a.M., 1973.
Bergson, H.: Einführung in die Metaphysik. Jena, 1920.
Bergson, H,: Das Lachen. Zürich, 1972. Berning, V.: Die Idee der Person in der Philosophie. Paderborn, 2007.
Camus, A.: Hochzeit des Lichts. Heimkehr nach Tipasa. München, 1994.
Hesse, H.: Das Wort ‚Brot’. 1980 (der Text steht auf der Internet-Site: www.hermann-hesse.de zur Verfügung. Dort kann auch eine Lesung des Textes von Hermann Hesse selbst als Tondokument abgerufen werden).
Jünger, E.: Heliopolis. Stuttgart, o.J. Jünger, E.: Auf den Marmorklippen. Stuttgart, 1979.